The
City that Never Sleeps
(New York) by Stephan Doesinger
Das ist die Geschichte eines Mannes, der nicht mehr schlafen
konnte.
Das Forschungsinstitut für Genetik und Human Resources lag mitten
in der Stadt hinter unbeachteten Mauern. Dahinter verbargen sich hochtechnisierte
Labors mit den leistungsfähigsten Computern, die es damals gab.
Wissenschafter bewegten sich lautlos in antiseptischen Räumen.
Lucian wurde von einer grossbusigen Blondine empfangen, die er zuvor schon
irgendwo mal gesehen hatte. Erst später sollte er erfahren, dass
diese Frau das Ergebnis eines des ersten erfolgreichen,menschlichen Klonens
sei.
Noch vor wenigen Jahren wurde die Gentechnik scharf observiert und in
den westlichen Ländern streng reglementiert. Es war naheliegend,
dass sich Gruppen von Wissenschaftler für geheime Forschungen von
grossen Konzernen gewinnen liessen, die die
ersten einer neuen anthropotechnischen Epoche sein wollten. Im Jahr 2000
erlaubte man die Forschung an menschlichen Embryonen. Medienstorys wie
„Dolly, das geklonte Schaf”, erschienen lächerlich gegen
das, was kommen sollte. Von Anfang an ging es immer schon um das Eine:
Den Menschen.
Eines dieser geheimen Projekte war Lucian 5. 0. Es ging darum, den Schlaf
auszulöschen. Der Gedanke war, dass Schlaf unökonomisch wäre.
Könnte man den Schlaf verkürzen, oder durch ein anderes genetisches
Erholungsprogramm für die Zellen ersetzen, würde man den Menschen
ein Drittel ihres nutzlos verschlafenen Lebens wieder zurückgeben.
Jahre zuvor hatten Forscher des Instituts es geschafft, einige Gene zu
isolieren, um den Alterungsprozess zu verlangsamen.
Geleitet wurde das Experiment von einem Arzt mit texanischem Akzent. Yates
war Mitte Vierzig. Seine Kollegen und Assistenten hatten einen Mordsrespekt
vor ihm, denn einer seiner Forschungen war es zu verdanken, dass –
zumindest theoretisch – die durchschnittliche Lebenszeit der Menschen
um dreissig Jahre verlängert werden konnte.
Lucian sah keinen Grund das Experiment nicht durchzuführen. Im Gegenteil:
Er hatte das Gefühl, an etwas Großem teilzunehmen. Zu jener
Zeit gab es die Möglichkeit sich als Human Resource, als Gen-Testperson
zur Verfügung zu stellen. Es funktionierte nach einem ähnlichen
Prinzip wie früher mit den
freiwilligen Blut Spenden oder Medikamenten Tests, mit denen sich sozial
Schwache ein wenig Geld dazuverdienen konnten. Zwar hatte man schon von
einigen unbeabsichtigten Vorfällen bei diesen
Experimenten gehört, aber die Konzerne hatten es immer wieder geschafft,
diese Vorfälle medial sofort für sich zu nutzen. Es war ein
Fest für die Werbe- und Film-industrie. Sie versprachen ewige Jugend
und Gesundheit, die schönsten und intelligentesten Kinder und so
weiter. Während dreiviertel der Weltbevölkerung in
Armutsvierteln und Ghettos dahinsiechten, planten die entwickelten Länder
ihre eigene
evolutionäre Revolution und arbeiteten an einer neuen Menschengattung,
die den
Homo Sapiens ablösen sollte.
Lucian war auserwählt aus einer Reihe anderer Bewerber. Yates` Assistent
versicherte ihm, er würde der erste einer neuen Gattung sein. Man
hatte Jahrzehnte lange Erfahrung und umfangreiche Forschungsergebnisse:
Unzählige menschliche Zellkulturen wurden von Genetics 3000 unter
Führung von Yates und seinen Kollegen aufgebaut - in langwierigen
Tests verbraucht - und im hauseigenen Krematorium dann zum Teufel gejagt.
Man hatte mit hunderten von Ratten Schlaftests gemacht, sie mit Drogen
vollgepumpt oder ihnen den Schlaf entzogen, bis ihr Immunsystem kollabierte
und sie schließlich nach zwei Wochen krepierten.
Mit unzähligen Menschenaffen wurden Tests mit ihrer Zirbeldrüse
gemacht, die verantwortlich für die Produktion des Schlafhormons
Melatonin ist. Den festgebundenen Kreaturen wurden 10000 Lux in die offenen
Augen gestrahlt. Das helle Licht sollte über die Netzhaut im Gehirn
den Tag/Nacht Rhythmus unterbrechen und die innere biologische Uhr zum
Stillstand bringen. Die Tiere schrien lautlos in die gleissende Leere.
Manchen wurden Teile des Gehirns entnommen, um festzustellen welchen Einfluss
der Schlaf auf die Erinnerung hat. Besonders interessant schien dabei
eine bestimmte Struktur in der Tiefe des Schläfenlappens zu sein,
die wegen ihrer seltsam gewundenen Form als Hippocampus oder „Seepferdchen"
bezeichnet wurde. Messungen ergaben, dass bestimmte Gruppen von Nervenzellen
dieser Gehirnregion immer besonders aktiv während des traumlosen
Non-REM-Schlafes waren. Diese seltsamen Gehirn-windungen funktionierten
als Zwischenspeicher, um Erinnerungen in der Großhirnrinde einzulagern.
Die Neurobiologen von Genetics 3000 untersuchten unzählige Gehirnlappen
von Tieren und auch von Menschen. Diese Tests hatten immer schwerwiegende
Folgen. 1995 wurde einem Patienten zur Linderung seiner Epilepsie beidseitig
der Hippocampus entfernt. Dieser Eingriff führte zu einer Amnesie
in zwei Richtungen. Er schaffte es
nicht, sich neue geistige Eindrücke länger als ein paar Augenblicke
einzuprägen, und er vergaß alles, was zwei oder drei Jahre
vor der Operation geschehen war.
Mit der neuen Methode von Yates und seinen Verschworenen hatte man jetzt
das Problem des Engramms gelöst. Der traumlose Schlaf als Wandlungsprozess
zwischen Erleben und Erinnern wurde durch die Modifikation einer Vielzahl
von Genen überflüssig. Durch die Gentherapie wurde die Funktion
des Gehirns in keiner Weise beeinträchtigt. Im Gegenteil sollte seine
Lernfähigkeit sogar stark gefördert werden. Die Forscher hatten
schon einige Menschenaffen erfolgreich damit behandelt, die Lucian Tage
zuvor stolz präsentiert wurden.
Sie waren konstant wach und schienen quicklebendig zu sein. Das vegetative
System der Primaten litt keineswegs unter dem Test. Ihre Zellen wurden
so programmiert, dass sie sich laufend regenerierten.
Kurz: Lucian konnte sich also sicher fühlen. Das Experiment würde
erfolgreich sein und nach einer einjährigen geheimen und einer weiteren
dreimonatigen öffentlichen Testphase durch andere Institute und Forschungsgremien
würde das Ergebnis weltweit für Furore sorgen. Das Institut
würde mit Geld vom Militär übergossen werden. Yates wäre
der Nobelpreis sicher, und Lucian hätte einen sicheren Platz in allen
Talk-Shows der Erde. Der Deal war also sonnenklar - alle würden sie
zu Stars, um die sich die Medien prügeln würden. Lucian wußte,
die Zukunft gehörte ihm. Er würde endlich Erfolg bei Frauen
haben und müsste nie mehr Angst haben, beim Vögeln einzuschlafen.
Er spürte die Macht, die er durch seinen permanenten Wachzustand
erlangen sollte, durch seinen Körper zucken. Während alle anderen
Nacht für Nacht vom Schlaf dahingerafft wurden, würde er in
der gewonnen Zeit sie alle an Leistung und Wissen überholen.
In der Geheimzone KV33 war bereits alles für das Experiment Lucian
5.0 vorbereitet. Nie mehr sollte Lucian in das vegetative Tal des Neandertalers
hinabsteigen, wie Yates den Schlaf verächtlich beschrieb.
In dieser Zone waren in unzähligen Kanistern die gefährlichsten
genetischen Waffen gelagert, die man bis zu diesem Zeitpunkt kannte. Für
Manche war es ein Arsenal des Schreckens, für die anderen die Hoffnung
auf eine bessere Welt.
Ein kurzer Schmerz, ein leises Brennen in seiner Vene.
Danach sollte Lucian für eine längere Zeit unter Quarantäne
bleiben, um die Wirkung bestmöglich observieren und untersuchen zu
können. Schon kurze Zeit später gab es erste Indikationen. Lucian
blieb bereits während der ersten Testphase hellwach.
Für Lucian flossen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander.
Die Zeit gefror, und der Raum wurde durchsichtig. Dahinter lag nur noch
die Erinnerung: Er sah Momente in der Stadt. Das Gesicht eines Taxifahrers.
Und während der Schlaf selbst für Lucian bedeutungslos geworden
war, bemerkte er überall schlafende Menschen.
Überall schliefen sie:
Auf der Straße …
am Sportplatz …
am Flohmarkt …
vor Eingangstüren …
in Coffeeshops.
Lucian begann die Schlafenden zu verachten. Es langweilte ihn, dass die
Menschen um ihn herum immer nur für kurze Zeit zur Verfügung
standen um sich zu treffen, zu reden und sich zu lieben. Sie waren die
ganze Zeit damit beschäftigt, ihre Zeit zwischen dem Schlaf zu organisieren
und der Einsamkeit zu entfliehen.
Es war paradox, aber je länger er wach blieb, desto schneller erschien
ihm seine Umgebung. Für Lucian baute sich dadurch eine unüberbrückbare
Distanz zu den anderen auf.
Mit der Entfremdung kam die Sehnsucht. Seine Sehnsucht nach dem Mädchen,
das er vermisste obwohl er es noch nie vorher getroffen hatte. Sie hieß
Lisa. In seiner Erinnerung traf er sie im Central Park an einem sonnigen
nachmittag.
Vögelgezwitscher,
Eisverkäufer, Spuren eines Flugzeugs im Himmel.
Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. Sie erzählten sich
Geschichten, liebkosten sich. Ihr Nacken duftete. Lucian schloss die Augen
zum ersten mal seit langer Zeit um diesen Moment zu geniessen. Als er
sie wieder öffnete sah er, dass sie schlief.
Er weinte leise.
Nach Beendigung der zweiten Testphase begannen die erlebten Bilder ein
Eigenleben zu führen.
Lucian fieberte.
New York war wie verwandelt.
Lucian fühlte sich wie ein Detektiv an einem Tatort, den es noch
gar nicht gab. Es war so, als ob er unsichtbar geworden wäre.
Die Bilder, die Lucian sah, wurden immer klarer, immer deutlicher und
waren bald immer präsent. Genaugenommen waren diese Bilder keineErinnerungen
mehr,
sondern recycelte Wahrnehmung, die sich mit den Bildern, die auf die Netzhaut
trafen, vermischten. Sie multiplizierten sich. Lucian war seinem eigenen
Herzschlag, dem Geräusch seines eigenen Atems, seiner Körperwärme,
seines eigenen Geruchs ausgesetzt. Selbst wenn er die Augen schloss, blieb
die Farbe des Blutes in seinen Lidern.
Yates und seine Kollegen waren zunächst ratlos. Gehirnmessungen ergaben,
dass sein Gehirn eine ständige, gleichbleibende Aktivität aufwies.
Weitere Messungen ließen keinen Zweifel aufkommen, dass für
Lucian der Begriff „Vergessen" nicht mehr existierte. Das Vergessen
schafft Lücken damit sich
Erinnerungen wieder zu neuen Ideen oder Assoziationen zusammenfügen
können.
Lucians lückenlose Wahrnehmung löschte diesen Prozess.
Und während sich über Lucian diverse Forscher beugten, war er
selbst unterwegs, auf einer Reise, bei der ihm keiner folgen konnte.
Die Strassen waren mit hunderten zerstörter Regenschirmgerippe übersät.
Am Tag zuvor hatte es einen Novembersturm gegeben. Wie die getöteten
Krieger einer unbekannten, außerirdischen Spezies, die den Fehler
gemacht hatten, auf die Erde zu kommen, zappelten sie hilflos im Wind.
Alle Taxis waren belegt, die Busse überfüllt und die Subway
wegen Überschwemmungsgefahr
geschlossen. Die Lichter spiegelten sich im Regen und zerfielen in viele
Splitter auf der Strasse.
Die Stadt stellte sich wie ein funkelnder Kristall dar, dessen Glanz Lucian
blendete.
Lucian war ruhig und gefasst. Von weit oben erschien die Stadt wie ein
strahlendes Lichtermeer. Die tosenden Geräusche der Stadt waren weit
entfernt.
Einen Augenblick lang zogen die Bilder von emsig arbeitenden Büroangestellten
an ihm vorbei, ehe er seine Schuhe verlor.
Die entgegenströmende Luft hielt ihm so zärtlich und zugleich
fest den Nacken, wie ein Kissen, in das man sich bettet. In kurzen Zeitabschnitten
erlebte er dieses Kissen als ein perfektes Paßstück zu seinem
Körper. In diesem Moment empfand er ein unglaubliches Gefühl
der Gerborgenheit.
Da er nicht träumen konnte, konnte er das Erlebte nicht vergessen.
Lucians Tod fand nur in seiner Erinnerung statt.•
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